REAL EXISTIERENDE AVANTGARDE

Am 9. November 1989 wuchs auch musikalisch zusammen, was zusammengehört. Klingt schlüssig, ist aber so nicht verifizierbar. Denn tatsächlich bildeten sich in den 40 Jahren der Trennung zwei deutsche Musikkulturen heraus: Zelebrierte man im Westen einenautonomieästhetischen Innovationsimperativ, gingen ostdeutsche Komponisten oft mit einem politischen Impetus zu Werke: teils subtil zwischen den Notenzeilen, teils in aufbaubeseelten Massenliedern.

30 Jahre nach dem Mauerfall  bietet sich die Gelegenheit, ein Ohr zurückzuwerfen. Das habe ich in mehreren Medien und Formaten getan:


INNDERDEUTSCHE DISSONANZEN (Neue Zeitschriff für Musik, 5/2019)

Mit den ostdeutschen Komponisten ist es heute ein bisschen wie mit den komponierenden Frauen: Sie sind unterrepräsentiert, aber im Gegensatz zu den Gender-Studies gibt es weder explizite DDR-Studien, noch eine Ossi-Quote. Der Soli mag Infrastrukturhilfe geleistet haben – den ostdeutschen Künstlern kam er nicht zupass. Und schon ist man drin im ostalgischen Jammerton, den man bei diesem Thema unbedingt vermeiden sollte – weil er sach- lich so nicht richtig ist und auf kulturpo- litischem Gebiet die ideologisch gefärbten Ressentiments verlängert.Verklärung und Abgrenzung sind wenig produktive Reaktionen auf unbestreitbare Ungerechtigkeiten, welche die Teilung einer Musikkultur infolge einer kriegsbedingten Staatstrennung sowie die Re-Organisation infolge einer 40 Jahre später erfolgten friedlichen Staatsfusion musikhistorisch illustrieren.


AVANTGARDE ODER AGITATION? (DLF, Atelier neuer Musik, 9.11.2019)

Das zeitgenössische Liedschaffen in der DDR spannte sich auf zwischen den Polen Avantgarde und Agitation: Mobilisierten schwungvoll-affirmative Massengesänge und politische Kunstlieder sozialistische Ideale, so übten andere zwischen den Notenzeilen subtile und oft genug auch avantgardistische Subversion. Wie wenig klischeehaft die ostdeutsche Musik zu bewerten ist, zeigte sich im Mai 2019 in Hannover, wo die Hochschule für Musik, Theater und Medien dem ostdeutschen Lied unter dem Motto „Unter dem Radar“ ein dreitägiges Symposium mit diversen Konzerten widmete: Von der apolitisch-konformistischen Dresdner Schule, über Vertreter der inneren Emigration bis zu den avancierten Berliner Komponistenkreisen, deren Vertreter der Neuen Musik westlicher Prägung in Sachen Experiment kaum nachstanden – aber einen politischen Impetus pflegten, der bis heute nachhallt.


UNTER DEM RADAR: OSTGEZETER (DLF, Musik-Panorama, 18.11.2019)

»Ostgezeter: Beiträge zur Schimpfkultur« – so nannte Thomas Rosenlöcher seine 1997 erschienenen Aufzeichnungen zur Zeit der ostdeutschen Transformation. 30 Jahre nach dem Mauerfall in Berlin diente sein Bonmot beim Festival TONLAGEN im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau als Titel eines Konzerts des Dresdner Vokalensembles AuditivVokal, bei dem neben Liedern aus der DDR auch eine Reihe von (Ur-)Aufführungen auf dem Programm standen – etwa von Friedrich Schenker und Georg Katzer. Auch an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover widmete man sich im Frühjahr 2019 intensiv dem Liedschaffen in der DDR. Das Festival-Symposium »Unterm Radar« brachte die Stimmvielfalt des Ostens zum Klingen: Zwischen subversiv und konform, Massenlied und Avantgarde, führen die Lieder eindrücklich vor Ohren, wie wenig klischeehaft das Musikschaffen in der DDR zu bewerten ist, wie divers Leben und Kunst auch unter staatlicher Aufsicht gedeihen.


Auch 30 Jahre nach der Wende ist der Zusammenklang der beiden deutschen Staaten von Dissonanzen durchzogen – und das nicht nur, aber auch im musikalischen Sinne. Das «Zusammenwachsen» ist ein symbolischer Begriff, der das Zusammenfügen gebrochener Körper- teile genauso beschreibt, wie dieVerschmelzung getrennter Staaten und Kulturen. In jedem Fall bleibt eine manchmal schmerzende Naht zurück, die als Wund- und Heilungsmal auch ästhetischen Wert besit- zen kann. Man sollte die Narbe selbstbewusst zur Schau tragen und nicht unter dem Mantel desVergessens verstecken…

Friedrich Schenkers MISSA NIGRA – ein Warnruf IM ANTHROPOZÄN

Anna Schürmer beim "Forum neuer Musik" 2017

Der Mensch erscheint im Holozän” (Max Frisch, 1979). Im Anthropozän aber baut die Spezies ihre eigene Abschussrampe: “Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang” (Peter Sloterdijk, 2011).


Friedrich Schenker schrieb sein “Kammerspiel II” MISSA NIGRA 1979 mit Blick auf ein zynisches Symbol des Kalten Krieges: Die Neutronenbombe ließ den Leipziger Komponisten und Posaunisten “Musik zum pazifistischen Gebrauch” schreiben; friedvoll sind die Klänge seiner schwarzen Messe allerdings kein bisschen. Vielmehr nutzt er aggressive Tongebung, schärfste Kontraste und  tragikomische Assonanzen, um ins Spiel zu setzen, was auf dem Spiel steht: In seinem alptraumhaften Happening setzt er die unmenschlichen Perversionen des menschlichen Denkens in neun Teilen als Warnruf vor dem menschgemachten Untergang der Spezies in Szene – die im Anthropozän neue Dringlichkeit entfaltet.


Die MISSA NIGRA ist Gegenstand meines publizistischen Zyklus, der sich um eine Aktualisierung des Werkes und seines Stoffes in der Gegenwart bemüht.

Anlass war das “Forum neuer Musik” des Deutschlandfunks, das sich 2017 mit einem nur scheinbar unmusikalischem Thema beschäftigte:

IM ANTHROPOZÄN”

Der amerikanische Philosoph Timothy Morton prophezeite: “Die Zeit wird kommen wo wir an jeden Text die Frage stellen, was sagt er über das Klima aus” – und genau das tat Frank Kämpfer mit seinem Forum neuer Musik 2017:

“Der Mensch ist heute der zentrale irdische Akteur. Wir sind dabei, die Biosphäre, unsere Lebensumwelt auf der Jagd nach Wachstum aller Art immer stärker zu stören. Die zeitgenössischen Künste müssen sich dazu positionieren!”

Das zeigt sich nicht nur in neuen Werken wie “Kudzu / the sixth phase/“, in dem die schwedische Komponistin Malin Bång die irdische Klimaerwärmung und die Potenziale der Pflanzen mit musiktheatralen Mitteln zusammendenkt. Auch ältere und in anderen Kontexten entstandene Werke wie “De natura hominis” (1998) von Georg Katzer oder eben Friedrich Schenkers “Missa nigra” lassen sich mit heutigen Fragen aktualisieren: Nicht nur Weltpolitik, auch anthropogene Ereignisse wie der Klimawandel, Medienumbrüche wie die Digitalisierung und  neue Formationen zwischen Natur und Kultur wie die “Technosphere” lassen Werke reagieren.


Den Auftakt zu der Serie macht mein Text DER ALTE FRITZ UND DIE BOMBE, der in der (2/2017) der Neuen Zeitschrift für Musik (NZfM) erschienen ist.

Am 7. April folgt in Köln die Premiere der Neuinszenierung von Oliver Klöter in der musikalischen Interpretation des ensemble 20/21 unter der Leitung von David Smeyers. Am Vormittag, im Rahmen der Matinee an der Kölner Musikhochschule wo Stefan Amzoll, Nina Noeske und ich dem “Naturfreund und Apokalyptiker” Friedrich Schenker bedachten, hielt ich meinen Vortrag “Der Alte Fritz und die Bombe” über die Bombe als ebenso physisches wie metaphysisches Symbol für die anthropogenen Schrecken.  Am Abend folgte im Foyer des Funkhauses meine Lecture “Vom Original zur Aktualisierung”, in der ein audiovisuelles Artefakt im Zentrum stand: der Mitschnitt der Urinszenierung von 1979 im Alten Rathaus zu Leipzig, wo die Gruppe Neue Musik “Hanns Eisler”  Friedrich Schenkers kunstvolle Schreckensvisionen als politdadaistische Orgie in schwarzen Farben ausmalte und eine Bo,be lautmalerisch detonieren ließ:

Im Nachgang entstand im Juli 2017 mein Konzertdokument, das in zwei Stunden die Neuinszenierung durch Oliver Klöter und das Ensemble 20/21 unter David Smyers vorstellt und kommentiert und zeigt: Auch in Hörweite der zeitgenössischen Problemlagen – neuen Kriegen, Nationalismus und Protektionismus etc. – entfaltet Friedrich Schenkers MISSA NIGRA ungeheure Kraft.